Geld und Magie : eine ökonomische Deutung von Goethes Faust

Binswanger, Hans Christoph, 2005
AK-Bibliothek Feldkirch
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Medienart Buch
ISBN 978-3-938017-25-8
Verfasser Binswanger, Hans Christoph Wikipedia
Systematik GW.AV - Wirtschaft: Vermischte Schriften
Schlagworte Geld, Wirtschaft, Ökonomie, Schweizer AutorInnen, Analyse
Verlag Murmann
Ort Hamburg
Jahr 2005
Umfang 167 S.
Altersbeschränkung keine
Sprache Deutsch
Verfasserangabe Hans Christoph Binswanger
Annotation
Rechtzeitig zum Faust-Jubiläum 2008 hat Hans Christoph Binswanger, einer der Gründerväter der Umweltökonomie, seine Faust-Interpretation, die erstmals 1985 erschienen ist und damals mit etlichen Umweltpreisen ausgezeichnet wurde, wesentlich überarbeitet und neu aufgelegt. Unter Insidern besitzt das Buch schon lange Kultstatus, jetzt sollte es auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt werden.
Im umfangreichsten und wichtigsten I. Hauptteil (11-85) beschreibt Binswanger die moderne Wirtschaft als alchemistischen Prozess. Alchemie, jene wundersame Geheimwissenschaft, der sich Doktor Faust verschrieb, ist die Kunst, aus Wertlosem ohne große Anstrengung oder Gegenleistung etwas Wertvolles zu machen, d.h. Wertschöpfung im engen theologischen (!) Sinn des Wortes: Aus dem Nichts etwas ins Sein rufen (23). So habe Goethe im Faust - in diametralem Gegensatz zu Adam Smith - die Wirtschaft betrachtet, lautet die Kernthese. Denn Faust fasse ja den Plan der Papiergeldschöpfung, den er dem Kaiser vorlegt, um alle Geldsorgen loswerden zu können. Dabei begründet Faust den Wert des Papiergelds mit zwei Argumenten: Einerseits ruhten im Boden des Kaiserreichs so unendlich viele Bodenschätze, dass das Papiergeld im Fall des Falles jederzeit "verflüssigt" werden könne (alchemistisches Symbol bei Goethe: das flüssige Quecksilber). Andererseits untermauere der Kaiser den Wert jedes Geldscheins durch seine Unterschrift, die sich darauf befinde (alchemistisches Symbol bei Goethe: das glänzende Feuer, in dessen Schein der Kaiser die Unterschrift leistet).
Goethe ahne, so Binswanger, dass eine solchermaßen von puren Fiktionen gestützte Wirtschaft über kurz oder lang in Inflation und Zusammenbruch enden müsse (32). Aber die Einführung des Papiergelds sei erst die erste Stufe der Alchemie. Deren zweite sei es, die so geschaffenen fiktiven Werte in die Beherrschung der Natur zu investieren. Im Anklang an Faust unterscheidet Binswanger zwischen dem patrimonium, dem Vätererbe, das man so behandeln möge, um es einst an seine Kinder weitergeben zu können, und dem dominium, das man dem radikalen Nutzenkalkül unterwerfen und uneingeschränkt beherrschen soll (34). Auf dieser Stufe beginne der rücksichtslose Raubbau an der Natur, der die Moderne kennzeichne.
Es ist klar, worauf Binswanger hinaus will: Der moderne Wirtschaftsprozess sei eine creatio ex nihilo, der Versuch, sich im wirtschaftlichen Schaffen unsterblich zu machen. Damit aber erliege er - aus der Sicht Goethes - einer Illusion: Denn in Wirklichkeit könne die Wirtschaft ja die Begrenzung der Welt nicht aufheben (58). Zur wirtschaftlichen Tat, von der Faust bei der Lektüre des Johannes-Prologs sagt, sie sei "im Anfang" gewesen, geselle sich also eine ihr entgegengesetzte dreifache "Untat" (Binswanger): Der Verlust der Schönheit durch die industrielle Verunstaltung der Welt; der Verlust der Sicherheit durch ökonomisch riskante Unternehmungen; der Verlust des Reichtums durch die ökonomisch induzierte Unfähigkeit, die Gegenwart zu genießen, da man ja immer schon wieder an die Zukunft denken und in sie investieren muss.
In Goethes Faust werden zwei Wetten geschlossen (64-74): Die eine im Himmel zwischen Gott und Mephistopheles - diese gewinnt Gott, weil er am Ende den erlöst, der sich strebend bemüht hat. Die andere Wette wird auf der Erde geschlossen, zwischen Mephisto und Faust - sie gewinnt Mephisto. Faust möchte "Ewigkeit" gewinnen im unendlich bleibenden irdischen (!) Augenblick. Aber genau als ihm ein solcher Augenblick gekommen scheint, stirbt er und verliert damit alle Zeit auf Erden. So ist Faust der Inbegriff des modernen Irrtum (Prolog im Himmel: "Es irrt der Mensch, solang er strebt"): Ihm scheint, als könne die Ökonomie die irdische Verewigung des Menschen bewirken - aber das ist der Trugschluss eines sich in Maßlosigkeit über die Begrenzungen der Natur überheben wollenden Menschen, eines Menschen, der glaubt, er könne die Nachteile von Wirtschaft und Technik durch noch mehr Wirtschaft und noch mehr Technik überwinden (78). Binswanger möchte hier - im Gefolge Goethes (!) - der materiellen Alchemie der Wirtschaft eine "spirituelle Alchemie" der göttlichen Gnade entgegensetzen (82).
Im II. Hauptteil des Buchs (87-131) stellt Binswanger die Sehnsucht des Menschen nach Unsterblichkeit in einen größeren Kontext. Goethe stelle im Faust drei Wege zur Überwindung der Vergänglichkeit dar: Die Wissenschaft, die den Ursprung der Welt, d.h. die Vergangenheit in der Formulierung von Normen "verewigen" wolle (von Goethe symbolisiert in der Herstellung des Homunculus durch Wagner); die Kunst, die den gegenwärtigen Moment in der reinen Form festzuhalten suche (von Goethe symbolisiert in der Figur der Helena); und die Wirtschaft, die durch ihr Wetten auf die Zukunft in der Herstellung ewig gültigen Geldes Unvergänglichkeit anstrebe. Die Wirtschaft aber bleibe im Faust Sieger über die Kunst und werde Herrin über die Wissenschaft, die ihre Autonomie verliere. Mit dem Übergang von der alten Subsistenzwirtschaft (verkörpert in den Figuren von Philemon und Baucis) zur Geldwirtschaft werde das Geld zum Selbstzweck, der alle anderen Zwecke aufsauge, zum Götzen "dieses Äons" (130).
Ist die ökonomische Deutung des Faust eine echte Exegese oder liest der Interpret hier unhistorisch eine Fragestellung des 21. Jahrhunderts in einen Text des frühen 19. Jahrhunderts hinein? Diese Frage untersucht der III. Hauptteil (133-154), in dem Binswanger die Beziehungen Goethes zu den wirtschaftstheoretischen Debatten seiner Zeit darstellt. In detail- und kenntnisreicher Argumentation legt er unzweifelhaft klar, dass der auf die Ökonomie des Herzogtums Weimar spezialisierte Geheimrat Goethe die ökonomischen Hauptwerke seiner Zeit sehr genau kennt. Mit dem Faust, aber auch mit Wilhelm Meister und dem Zauberlehrling nehme er seine Positionierung innerhalb der Debatte vor: Durchaus wirtschaftsliberal und technikfreundlich, letztlich aber auch skeptisch, ob man die Geister noch beherrschen könne, die man mit der Einführung des Papiergelds gerufen habe.
Binswangers Faust-Interpretation ist eine große, beinahe prophetische Vision. LiteraturwissenschaftlerInnen mögen bedauern, dass er die vielen Faust-Zitate nicht mit Verszahlen versehen hat, die einem manche Mühen des Suchens nehmen würden. ÖkonomInnen mögen kritisieren, dass Binswanger da und dort die Härten und Zwänge des vormodernen Wirtschaftens ein wenig romantisch verklärt (womöglich in Übereinstimmung mit Goethe selbst). PhilosophInnen und TheologInnen werden jedoch überrascht sein, aus dem Munde eines Ökonomen so tiefgängige und kenntnisreiche philosophische und theologische Gedankengänge zu vernehmen. Allein das sorgt dafür, dass das Buch ein Muss für jede wirtschaftsethische Debatte ist. - Und ein Genuss für alle, die an großer Literatur Gefallen finden.